Sally kurz vorm Zusammenbruch! Und wir auch!
Unsere Unterkunft im zersiedelten Orduköy verlassen wir Richtung Westen und fahren weiter auf der Staatsstraße D 010, die auch Black Sea Costal Road genannt wird. Die 1427 km lange Straße beginnt bereits bei Kars an der Iranischen Grenze weit vor dem Schwarzen Meer und endet hinter Karasu ca. 200 km vor Istanbul. Begleitet wird sie größtenteils der Länge nach von West nach Ost vom Pontischen Gebirge, das sich entlang der türkischen Schwarzmeerküste mit immer höheren Bergen erstreckt, die über 3000 m hoch werden. Hier ab Sinop geht die meist 4 spurig gut ausgebaute Strecke in eine kleine, enge Bergstraße über. Sie windet sich und schraubt sich in engsten Kurven steil bergauf, um dann wieder in Spitzkehren auf Meeresspiegelhöhe abzufallen.
Durch das Unwetter haben wir nicht all zu viel von dieser Küstenstraße mitbekommen, aber nun hat es sich der Wettergott anders überlegt und lässt die Sonne ohne ein Wölkchen strahlen.
Das Ausmaß des Unwetters ist uns zunächst kaum bewusst, die Straße ist frei und lässt sich fahren, ab und an sehen wir abgetrockneten Schlamm, der, beiseite geräumt, neben der Straße liegt. Bis wir in die Kleinstadt Türkeli kommen denn hier ist die Straße sowie ein großer Teil der Stadt komplett gesperrt. Wir streiten uns erst ein wenig, ob die Sperrung unwetterbedingt ist oder einfach nur eine normale Baustelle sein soll. Zum Ausdiskutieren kommen wir ohnehin nicht, denn es gibt weder Umleitungen noch sonstige erkennbare Wege, wie es wieder aus der Stadt raus geht. Auch die meisten Autofahrer, die wahrscheinlich auch nicht ortskundig sind, scheinen nicht Bescheid zu wissen und der gesamte Stadtbereich ist ein einziges Chaos. Es wird gehupt, geschimpft, gedreht, gewendet, links und rechts abgebogen. Wir folgen zunächst einer kleinen PKW-Kolonne, die den Weg hinaus zu kennen scheint. Aber auch dieser Trupp verstreut sich nach ein paar Kreuzungen in alle Richtungen und wir sind heillos überfordert und vollkommen lost! Irgendwann finden wir uns alleine am Ende des Ortes, äh, am Anfang des Ortes wieder, denn von hier sind wir rein gefahren. Ein älterer Herr spricht uns auf Deutsch vom Garten seines Hauses an, wo wir denn her kommen und wo wir hin wollten? Den schickt uns der Himmel, denke ich und muss diesen Gedanken aber ganz schnell wieder verwerfen, denn er freut sich, dass wir aus Deutschland kommen und die Türkei bereisen. Auf die Frage, wie wir aus diesem Ort denn raus kommen, kann er nur mit den Achseln zucken, wir sollten drehen und zurück! Ach! Es geht ja auch nur drehen, denn die Straße endet hier! Also wieder zurück! Wir quälen uns erneut durch das hupende Innenstadtchaos bis wir wieder mit anderen Autos in einer Sackgasse stehen. Ich will schon anfangen, zu heulen, da stoppt ein Wagen mit deutschem Kennzeichen neben uns. Aber den schickt uns jetzt der Himmel! Tatsächlich, ein Mensch, der in Türkeli zu Besuch in der Heimat ist. Kurzerhand gibt er uns persönliches Geleit und wir folgen ihm. Es geht rechts, links, um die Ecke, in ein kleine Gasse, in eine noch kleinere Gasse steil bergauf. Beim Abbiegen läuft mir ausgerechnet ein Fußgänger vors Rad und bevor ich ihn überfahre, entscheide ich mich fürs abrupte Bremsen und ziehe im Affekt hektisch die Vorderradbremse (sollte man nie tun!). Der Fußgänger geht gemütlich weiter und ich liege fast um, kann mich aber gerade noch im letzten Moment fangen, während mein Mann längst dem PKW gefolgt ist und ich Schwierigkeiten habe, sie wiederzufinden. Gut, das unsere Gegensprechanlage auf mehrere hundert Meter funktioniert! Da sind sie endlich wieder und warten auf der Kuppe auf mich!
Er führt uns tatsächlich raus aus diesem Chaos, kurbelt sein Fenster runter, erklärt uns noch den Weg, wie wir weiter fahren sollen und, schwupp, weg ist er, noch bevor wir uns bedanken können!
Aber, oh Schreck!, bevor wir weiter fahren können, haben wir ein neues Problem und Sally hat ihr altes Problem wieder! Sally ist ja spartanisch ausgestattet, sie besitzt neben dem Üblichen noch eine Ölstandsanzeige und eine Temperaturanzeige, die mir nun in einem deutlichen Signalrot entgegen leuchtet!
An der nahen Tankstelle können wir glücklicher Weise stoppen, so dass Bert alles, zumindest oberflächlich, checken kann! der Ventilator läuft und er vorerst kann nichts feststellen. Vermutlich war all das Chaos zu viel für meine alte Lady. Das ständige Stoppen, Anfahren, Halten und Fahren mit schleifender Kupplung bei einer Außentemperatur von über 30 Grad hat ihr wohl ziemlich zugesetzt. Wir geben ihr etwas Zeit zum Ausruhen, damit sie abkühlen kann. Tatsächlich ist beim Neustart alles wieder okay.
Bis zu unserem Ziel, Amasra sind es noch über 200 km. Wir kraxeln also alle Vier gemeinsam die Berge hoch und runter, wie beschrieben in Engen Kurven, oft mit Sicht auf das Schwarze Meer, mal von oben herab, mal auf Augenhöhe.
Die Anzeige bleibt aus und ich denke nach kurzer Zeit schon nicht mehr daran!
Während sich wahrscheinlich Karawanen gerade in diesem Augenblick entlang der bekannten Küstenstraße an der Adria in Kroatien entlang schlängeln, ist hier auf der ganzen Strecke, außer ein paar einheimischen Fahrzeugen nichts los und wir haben die Straße zeitweise für uns ganz allein. Faszinierende Ausblicke auf das Meer gibt es Viele.
Genau auf dieser schönen Strecke erreicht meine gute alte Sally tatsächlich ihre 100.000 km!
Komisch, wie so eine Maschine einen ans Herz wachsen kann. Was hat sie mich doch in ferne Länder und Regionen begleitet, über Autobahnen, Asphalt, Teer, Sand und Schotter, durch Regen und große Hitze! So manche schwierige Piste haben wir gemeinsam gemeistert. Nein, menschliche Züge bekommt sie nicht, aber manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich mit ihr spreche!
In Amasra kommen wir spät und erschöpft, aber glücklich an! In der kleinen, privat geführten Pension direkt an der Strandpromenade wartet ein großes Zimmer im 5.ten Stock ohne Fahrstuhl !!! auf uns. Mit letzter Kraft schleppen wir unser ganzes Gepäck hoch und wir sind uns gleich einig, dass wir uns erneut einen Tag Auszeit gönnen sollten! Ort und Unterkunft sind perfekt, mal wieder die Seele baumeln zu lassen. Besonders die alte Sally hat sich ihre Ruhe verdient! Mein lieber Mann hat ebenfalls Zeit, denn beide Maschinen - auch Harry -können eine kleine Wartung gut gebrauchen! Ich sehe aber auch, wie es in seinem Kopf rattert und er nach der Ursache für Sallys Aussetzers forscht! Sie hatte das Problem ja schon einmal vor 2 Jahren, da war die Ursache der Ventilator, dann bekam sie einen Neuen und seitdem lief alles perfekt. Der Ventilator ist es wahrscheinlich auch gar nicht, denn der läuft! Er schraubt nun alles Mögliche auseinander, checkt, schaut und stellt fest, dass sie enorm viel Wasser verbraucht hat, seit Pamukkale wurde es nicht mehr nach gefüllt! Kann schon sein, in ihrem Alter und mit den Kilometern verbraucht sie vielleicht einfach mehr! Vielleicht war das ja der Grund, das wäre zu schön!
Am nächsten Morgen treffen wir eine deutsch/türkische Familie, die in Amasra ein paar Tage am Meer verbringen wollte. Sie erzählen uns, wie das Unwetter gewütet hat und sie ihr Hotelzimmer 2 Tage nicht verlassen haben. Die armen Kinder! Sie hatten sich so auf das Meer gefreut! Nun ist das Wetter wieder gut und man kann trotzdem nicht im Meer baden. Und Morgen müssen sie wieder abreisen! Nicht im Meer baden? Das hatten wir heute vor! Von offizieller Stelle wird vor dem Baden im Meer gewarnt, erklären sie uns, denn das Unwetter soll Verunreinigungen hervorgerufen haben! D.h. im Klartext, dass Abwässer ins Meer gelangt sind und was das bedeutet, können wir uns gut vorstellen. Uns ist die Freude vergangen und wir verzichten auf ein Bad im Schwarzen Meer.
Ach, auch so können wir den Tag vertrödeln!
Gut gelaunt, mit ausgeruhten, frisch gewarteten Motorrädern und bei strahlendem Sonnenschein verlassen wir Amasra .
Die ersten 50 Kilometer fahren wir noch ganz entspannt in der Annahme, dass Sally nur etwas Wasser fehlte und wir genießen das Fahrgefühl und Landschaft der Black Sea Costal Road bis mir die Anzeige zum ersten Mal heute wieder feuerrot entgegenleuchtet. Das macht jetzt ganz nervös! Wir stoppen an einer Tankstelle und geben der alte Lady Zeit zum Abkühlen. Ein paar Minuten reichen bis die Leuchte erloschen ist. Und mein Mann beruhigt mich, wenn das alle 50 km so geht, lässt es sich ja aushalten! Noch sind wir optimistisch und fahren wohlgemut weiter bis wir die über 100.000 Einwohner zählende Stadt Zonguldak erreichen. Zonguldak hat wohl auch Einiges vom Unwetter mitbekommen, an den Außenbezirken türmt sich der Schlamm am Straßenrand und wir müssen uns durch den dichten Großstadtverkehr in der Innenstadt quälen, auch hier wartet eine staubige Baustelle mit Stopp and Go! Das ständige Anfahren bei extremer Hitze und das Fahren mit schleifender Kupplung setzt meiner Sally wieder so zu, das sie an einer Ampel komplett ausfällt! Sie fängt an zu kochen, es zischt, blubbert und dampft! Meine Unterschenkel werden noch heißer als sie ohnehin schon sind! Ich kann keinen Meter, nein keinen Zentimeter mehr weiter! Dieses Mal verursachen wir ein Chaos und einen Stau. Bert sucht eine Stelle, wo er Harry parken kann und kommt herbei geeilt, damit wir Sally erstmal von der Mitte der Straße vor der Ampel und weg von all den hupenden Autos an den Rand schieben können. Ein paar Meter weiter finden wir einen Platz unter einem Baum im Schatten, wo wir nicht im Wege stehen! Wie uns der Schweiß läuft, brauche ich ja sicher nicht zu erwähnen und mein Herz klopft wie wild. Erstmal Trinken! In Null Komma Nix sind unsere Wasservorräte aufgebraucht! Mein hochroter Kopf kühlt - wie Sally - kaum runter!
Was nun? ...Wir sind so ratlos! Wir sind überfordert, unsere Gedanken sind konfus! So sitzen wir eine ganze Weile am Bordstein! Am Bordstein in einer türkischen Stadt, dessen Namen wir noch nie gehört haben! Es ist wirklich schwer, klare Gedanken in so einer Situation zu fassen. Wie lange wir da so, die Köpfe in die Hände gestützt, in Schockstarre verweilen, weiß ich nicht mehr, aber irgendwann schauen wir beide uns an. So ratlos können wir ja nicht bleiben und fassen unser beider Gedanken zusammen. Was für Möglichkeiten haben wir überhaupt? Und so suchen wir nach Lösungen. Als allererster Gedanke kommt der Gedanke des Aufgebens! Aber was bedeutet denn überhaupt Aufgeben? Hier, an Ort und Stelle stehen bleiben und warten? Warten bis ein Engel angeflogen kommt und uns aus unserer Situation befreit? So ein Engel, der vielleicht Englisch oder Deutsch spricht, seine Beziehungen spielen lässt und einen Abschlepper oder Ähnliches rufen könnte. Nein, so eine Hilfe wie Kamil in der Baustelle hinter Kayseri kommt hier leider nicht vorbei!
ADAC-Pannenhilfe ist zunächst das Zauberwort. Dazu brauchen wir Internet und/oder Telefon!... Oh neiiiin! ... Unsere türkische Sim-Karte läuft gerade heute - nach 28 Tagen - ungültig. Somit stehen wir OHNE da, ohne Internetzugang, ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne Kontakt zum ADAC! Wie hilflos man heute ohne Internet ist! So besteht unser kleines Glück momentan darauf, dass wir uns im Zentrum einer Stadt befinden. Wir lassen Harry und die arme Sally unterm Baum zurück und laufen los. Laufen los in der Mittagshitze in voller Motorradklamottenkluft, um in einem Telefonladen eine Sim-Karte zu erstehen. Auch mit Trinkbarem können wir uns wieder eindecken. Eigentlich ist das Kaufen einer Sim-Karte kein großes Ding! An Handyshops mit allen gängigen Anbietern mangelt es nicht, aber hier leider an fähigen Mitarbeitern. In den ersten beiden Läden treffen wir nur auf Ratlosigkeit und Inkompetenz der jungen Verkäuferinnen, die uns mit Achselzucken in andere Shops der Gegend verweisen, anscheinend hat noch nie ein Ausländer jemals ihren Laden betreten! Im dritten Geschäft verkauft man ohnehin keine Simkarten an Ausländer! Im Vierten sind wir endlich erfolgreich! Nachdem das Verkaufsprozedere von einer netten, jungen Verkäuferin mit schrill pinken Fingernägeln eingeleitet wurde und wir Angaben zu unseren persönlichen Daten gemacht haben, wir bereits eine Viertelstunde mit Warten verbracht haben, teilt man uns mit, dass es Probleme mit dem Computersystem gibt, sie den Vorgang abrechen müsste und wir es woanders probieren sollten! Entschuldigung, aber am Liebsten hätte ich die junge Dame mit ihren pinkenen Fingernägeln über den Tresen gezogen! Zum Glück, wirklich zum Glück gibt es hier einen Handyladen neben dem anderen und im Nächsten läuft alles endlich reibungslos, man verkauft uns ein Internetpaket für weitere 28 Tage und binnen weniger Minuten sind wir im Besitz einer neuen Sim-Karte und somit in Verbindung zur Außenwelt!
Wir tapern zurück zu unserem Schattenplatz, wo Sally und Harry bereits auf uns warten und kaufen nebenbei noch schnell neue Wasservorräte. Nun können wir endlich den ADAC rufen!... Momentmal!...Ist das wirklich sinnvoll? Hier in Zoguldak? Hier in Zonguldak am Rande der Baustelle in der Innenstadt? Sollten wir uns nicht erst ein Hotel suchen, von wo aus man dann auch in Ruhe telefonieren kann? Ganze 4 Hotels machen wir aus, die nicht einmal in der Nähe sind! Ein Hotelzimmer in Zonguldak!?
Sally scheint mir zuzublinzeln und sie spricht mit mir: " Was wollt ihr in Zonguldak? Der ADAC braucht bestimmt ein paar Tage, um einen Transport zu organisieren! Und was ist mit meinen Harry und deinem Bert! Wir müssten uns trennen und die Beiden müssten sich alleine bis nach Hause durchschlagen! Ich bin etwas abgekühlt und werde es bis zum Ziel in Karasu schaffen, das verspreche ich ! Dort habt ihr doch ein Hotelzimmer gebucht! Das ist euch sicher und ihr seid Istanbul näher, wo ganz sicher mehr Hilfe zu erwarten ist als hier! Da habt ihr den Kopf frei, um erneut zu überlegen!"
Mein lieber Mann und ich diskutieren nochmals am Rande dieser Straße mit ihrem hektischen Verkehr alles Mögliche durch, wägen Für und Wider ab, und entscheiden uns: Wir folgen dem Ratschlag Sallys!
Die Mittagshitze ist fast vorbei, bis Karasu sind es noch gut 100 km. Das schaffen wir alle Vier und das stehen wir alle vier gemeinsam durch! Bert baut Sallys Verkleidung ab, um an den Wassertank zu gelangen und füllt wieder Wasser auf!
Was sind schon 100 km? Ja, wir sind optimistisch und die 100 km werden wir wohl schaffen! Danach werden wir weiter sehen! Die Straße, die Natur, die D 010 werden zur absoluten Nichtigkeit, nur eins zählt: Ankommen! Und wir kommen tatsächlich an in unserem Hotel in Karasu, ca. 70 km östlich von Istanbul! Meine Sally hatte Recht, nur 2 mal müssen wir zum Abkühlen anhalten. Wie das Zimmer, wie die Umgebung aussieht, all das ist absolute Nebensächlichkeit und rückt in den Hintergrund unserer Bedürfnisse! Wir haben es geschafft bis hier nach Karasu und wir werden es weiter schaffen, auch mit der kaputten Sally! Nur das zählt! Das Thema ADAC ist erst einmal vom Tisch!
Den tollen Sonnenuntergang am Schwarzen Meer versuchen wir sorgenlos zu genießen!
Irgendwie versuchen wir eine Art Alltäglichkeit und Routine in unser momentanes Reiseleben zu bekommen!
Stoppen, Warten, Wasser auffüllen, peu á peu, immer ein Stück und ein paar Kilometer weiter. Von Karasu bis zur Grenze bei Edirne nach Bulgarien oder Griechenland sind es keine 500 km. Dann wären wir wenigstens in der EU und alles wäre einfacher! Wir fassen neuen Mut! Wenn wir uns so mit einer Übernachtung durchhangeln könnten! Eine Übernachtung weiter bedeutet eine Übernachtung näher an der EU, eine Übernachtung weiter, bedeutet einfach nur weiter kommen!
Mit großer Zuversicht buchen wir ein Hotelzimmer in dem kleinen Ort Selimpaşa nahe der Stadt Silivri, ca. 40 km westlich von Istanbul und mit großer Zuversicht verlassen wir Karasu, so wie wir gestern Amasra verlassen haben. Mit einer frisch durch gecheckten und Wasser befüllten Sally hoffen wir die 260 km gut meistern zu können! Die D010 hat ja hier bei Karasu ihr Ende und wir befahren wieder eine gut ausgebaute 4 spurige Straße mit langgezogenen Steigungen. Genau wie gestern laufen auch heute die ersten 40 km reibungslos. Aber dann nimmt das große Unglück seinen Lauf! Wir müssen ständig stoppen und eine Zwangspause einlegen, mal schafft die Sally 10 km, mal aber auch nur 2 km. Mal nur warten bis die Anzeige erlischt, mal die komplette Verkleidung abzubauen, um Wasser nachzufüllen. Mal retten wir uns bis zu einer Tankstelle, mal müssen wir auf dem Seitenstreifen halten. Unsere Nerven liegen blank, aber es treibt uns nur ein Gedanke an: Durchhalten und Ziel erreichen! Mein Blick gilt nur noch der Straße und der Anzeige.
Wir durrchfahren mehrere Tunnel und in einem, der genau 4 km lang ist und in dem es stickig und heiß ist, bemerke ich, wie Wasser auf mein linkes Bein tropft. Zunächst denke ich, es tropft eben von oben und das kommt aus der Decke des Tunnels.
Die Rücksichtslosigkeit türkischer Verkehrsteilnehmer kennt keine Grenzen. Hier sind nur 80 km/h erlaubt, schneller können wir sowieso nicht fahren, wir müssen ja den Motor schonen. Auch fahren wir mit Warnblinklicht. LKWs kommen in einem Affentempo von hinten angedonnert, fahren so dicht auf, blenden mich mit ihrer Lichthupe und im Tunnel klingt ihr Hupen noch grauenvoller! Bevor sie mich tuschieren, wechseln sie dann auf die linke Spur um zu überholen. Das Wiederum bremst die PKWs aus, die dann die LKWs anhupen.
Oh Schreck, das Getropfe wird immer stärker und ich bemerke, es kommt nicht von oben sondern von Sally, die ihr gesamtes Wasser nun auch bei normalem Tempo verliert! Mein ganzes Bein ist nass, Anhalten unmöglich, dennn im Tunnel gibt es keinen Haltestreifen! Ich habe nun richtige Angst!! Angst, dass mir der Motor um die Ohren fliegt, Angst, dass mich ein LKW von hinten umnagelt, Angst, dass ich nicht mehr heile aus diesem Tunnelraus komme! Und dann kommt das Licht immer näher und das Ende des Tunnels und ein Seitenstreifen!
Und immer noch haben wir den Drang und ein tiefes Vertrauen, unser Ziel Selimpaşa zu erreichen!
Eine Hürde ist noch zu nehmen: Istanbul! Istanbul, den Molloch mit seinen 15 Mio. Einwohner wollten wir sowieso weitgehend umfahren und nehmen die neueste und Äußerste von den 3 Bosporusbrücken. Sie kostet Maut und ist selten stark befahren. Die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke wurde 2016 eröffnet und ist eine der höchsten Brücken der Welt. Das Wow - Gefühl, dass wir eigenmächtig den Bosporus überfahren und von Asien zurück nach Europa gelangen, kommt in unserer Situation zwar nur sehr verhalten, aber es kommt!
Jetzt müssen wir nur noch Istanbul umfahren und dann sind es noch knapp 40 km bis Selimpaşa. Mit dem Gedanken, dass das Navi uns Istanbul großräumig umfahren lässt, stecken wir auch schon im dichtesten Rushhourverkehr bei weit über 30 Grad in den Außenbezirken dieser gigantischen Stadt! Kein gr0ßräumiges Umfahren mehr möglich! Warum es uns genau so schickt, das hinterfragen wir erst hinterher, jetzt müssen wir da durch, es gibt kein zurück! Ein Autobahnkreuz nach dem anderen, Fahrspuren kann man nicht erkennen, jeder fährt so wie er denkt, kreuz und quer, hin und her! Kaum können wir zusammen bleiben, denn irgendwer quetscht sich immer mal zwischen Harry und Sally und wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht verlieren! Natürlich hält das die Sally nicht aus, sie kocht und blubbert immer wieder und immer wieder. Mit Warnblinker bleiben wir einfach stehen bis die Lampe erlischt. So kämpfen wir uns Meter um Meter voran. Mittlerweile ist uns das Gehupe und Geschimpfe vollkommen egal!
Irgendwann, irgendwann kommt der Verkehr wieder ins Fließen und wir können unsere Stopps auf dem Seitenstreifen einlegen!
Nach gut 9 Stunden, die wir für die 260 km gebraucht haben, erreichen wir vollkommen erschöpft und unser Ziel, unser Hotel mit dem tollen Namen Bon City Hotel (ach, wie egal uns das momentan ist!) an der Schnellstraße nach Silivri am Rande der kleinen Stadt Selimpaşa.
Die EU, das Länderdreieck Bulgarien /Griechenland /Türkei sind nur noch 200 km entfernt! Die erreichen wir nun nicht, denn wir können und wollen keinen Meter weiter! Hilfe muss her!
Dass es weiter gehen wird, wisst ihr ja bereits, aber wie, das beschreibe ich im nächsten Artikel!
Die kleinen krassen Begebenheiten am Rande dieser, unserer, ganz persönlichen Geschichte zwischen Sinop und Karasu passiert sind und die uns im Nachhinein schmunzeln lassen, nämlich, dass ein LKW-Fahrer uns Beide am Rande einer Straße beschimpft, auf den Boden gespuckt und ich Angst hatte, dass er mich verprügelt und das mein lieber Mann, als er eines von Sallys vielen Kabeln mit den Zähnen abisolieren musste, weil er gerade nicht an sein Werkzeug kam und sich ein Stück Schneidzahn dabei abgebrochen hat und seitdem mit einer kleinen, feinen Zahnlücke rum läuft, erwähne ich hier nur kurz!
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Christian Hammann (Sonntag, 30 Juli 2023 18:00)
Wie Ihr das alles durchsteht...ich ziehe den Hut ....großartig Chrischaaan